Internationaler Workshop Poland 1968 'The Jewish Escape and Communism within the People´s Republic'

Internationaler Workshop Poland 1968 'The Jewish Escape and Communism within the People´s Republic'

Organisatoren
Simon-Dubnow-Institut für jüdische Kultur und Geschichte, Leipzig; Polnisches Institut Leipzig
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.05.2008 - 06.05.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Dorothea Warneck, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Kultur und Geschichte, Leipzig

Erinnerungen verlaufen in Europa unterschiedlich. Im Westen des Kontinents erfahren Vergangenheitsbilder mit Blick auf den zweiten Weltkrieg und den Holocaust eine Korrektur. Eine Erosion der nationalen Mythen prägt die Gesellschaften Westeuropas und setzt den Grundstein für eine neue Erinnerungskultur. Anders ist der Fall in Osteuropa: hier erfahren nationale Geschichtsmythen eine Renaissance und erheben ihren Geltungsanspruch auf die öffentliche Meinung. Hier tritt die polnische Vergangenheit seit 1945 ins Bild. Als „Christus der Nationen“ verfolgte Polen einen sakrosankten Umgang mit seiner Nationalgeschichte und konzentrierte sein Geschichtsverständnis auf die Opferrolle. Die intensiv geführten öffentlichen Geschichtsdebatten der letzten Jahre, gerade auch im Hinblick auf das polnisch-jüdische Verhältnis und den Holocaust, zeigen aber auch die Bereitschaft Polens zur Revision der Helden- und Märtyrergeschichte zugunsten eines ausgewogeneren Geschichtsbildes.

Diese unterschiedlichen Geschichtserfahrungen in Europa seit 1945 bildeten den Ausgangspunkt für den Workshop „The Jewish Escape from Poland 1968 – Nationalism and Communism within the People's Republic“, der am 5. und 6. Mai 2008 am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig stattfand und von diesem in Kooperation mit dem Polnischen Institut Leipzig ausgerichtet wurde.

Ausgehend von einer allgemeinen Diskussion der politisch-gesellschaftlichen Ereignisse 1968 in Polen und der Betrachtung der jüdischen Geschichte im Nachkriegspolen, den unterschiedlichen Selbstverständnissen polnisch-jüdischer Kommunisten, sowie dem polnischen Antisemitismus vor den Ereignissen des Jahres 1968, lag der Schwerpunkt der Konferenz auf den unterschiedlichen Reaktionen auf die antisemitische Regierungskampagne von 1968.

Zum Auftakt des Workshops gab BEATA KOSMALA (Berlin) in ihrem Vortrag: „An Overview – Anti-Zionism and Anti-Semitism in Postwar Poland (1944–1968)“ einleitend einen Überblick über das polnisch-jüdische Verhältnis nach 1945 als Vorgeschichte zu den Ereignissen von 1968. Den Fokus legte sie dabei zum einen auf die Emigrationsbestrebungen polnischer Juden in Reaktion auf die antisemitischen Pogrome in der unmittelbaren Nachkriegszeit, zum anderen auf antisemitische Tendenzen in der polnischen Gesellschaft, die sich gegen die Beteiligung polnisch-jüdischer Kommunisten an der polnischen Nachkriegsregierung richteten. Gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten wie in den 1950er Jahren hätten die antisemitischen Anfeindungen an Schärfe zugenommen. Die gegen die Juden gerichtete Propaganda sei in den Flügelkämpfen innerhalb der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) genutzt worden, um die Juden als Ursache der Probleme darzustellen und dadurch die Entfernung von jüdischen Mitgliedern in Parteikadern zu rechtfertigen, so Kosmala. Weiterhin zeigte Kosmala, wie aus der anti-israelischen Haltung des Warschauer Paktes eine gegen die Juden gerichtete antisemitische Politik im polnischen Kontext produziert wurde.
Der allgemein gehaltene Übersichtscharakter des ersten Beitrages wurde durch eine „Fall-Studie“ zur Geschichte der Towarzystwo Społeczno – Kulturalne Żydów w Polsce (Soziokultureller Verband der Juden in Polen – TSKŻ) ergänzt, die im Mittelpunkt des Vortrages von AUDREY KICHELEWSKI (Paris) ,Jewish Communist‘ 1957-1967 - The Socio-Cultural Society for Jews in Poland (TSKŻ) and the Polish United Workers Party“ stand. Kicheleweski beschrieb das Verhältnis der TSKŻ zur polnischen Regierung und betont dabei vor allem die Bedeutung des Jahres 1956 als „turning point“ für die TSKŻ, die nun nicht mehr das jüdische Sprachrohr der PVAP gewesen sei, sondern sich als Wohlfahrts- und Kulturorganisation für die polnischen Juden sowie für jene, die in den späten 1950er-Jahren aus der Sowjetunion nach Polen zurückkehrten, eingebracht habe. Die Ausbildung einer jiddischen Kultur, Kontakte zu internationalen jüdischen Organisationen wie z.B. dem JOINT seien unter Gomulka zwar wieder geduldet worden, aber spannungsreich geblieben, so Kichelewski.
Sowohl Kosmala als auch Kichelewski konzentrierten sich in ihren Vorträgen auf die Zeit vor 1968 als Vorgeschichte der Zäsur von 1968.

Dagegen rückte der dritte Vortrag des Workshop den thematischen Schwerpunkt der Veranstaltung in den Vordergrund: ANITA PRAZMOWSKA sprach über „The Polish Year of 1968 – The Anti-Zionist Campaign in Context“ und fokussierte dabei die Ereignisse im März 1968. Ausgehend vom internationalen israelischen Sechstagekrieg entwickelte Prazmowska ihre Ausführungen zur anti-israelischen Politik der Warschauer-Pakt-Staaten. Die polnische Regierung hätten diese auch für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert, Innenminister Mieczyslaw Moczar (1913–1986) habe die Gelegenheit genutzt, um die allgemeine eher wirtschaftliche Unzufriedenheit der Bevölkerung auf die Juden zu lenken. Eine antisemitische, als antizionistisch deklarierte Kampagne der Partei richtete sich gegen die in Polen lebenden rund 30.000 Juden, zu denen auch all diejenigen gezählt wurden, die jüdische Vorfahren hatten, ganz besonders, wenn sie Intellektuelle oder Partei- und Armeemitglieder waren. Die Rede des Generalsekretärs der PVAP, Władysław Gomułka, in der er die polnischen Juden als 5. Kolonne Israels in Polen bezeichnete, gingen einher mit einer wachsenden nationalistischen Stimmung innerhalb der Partei. Der „Prager Frühling“ 1968 zeigte rasch Rückwirkungen auf Polen, wo eine Studentendemonstration im März 1968 in Warschau von den Sicherheitsorganen niedergeschlagen wurde. Unter den mehr als 700 prominenten Opfern der anschließenden Säuberungen in Politik, Armee, Hochschulwesen und Kultur befanden sich auch der Staatsratsvorsitzende Edward Ochab (1906–1989) und Außenminister Adam Rapacki (1909–1970), die die antijüdische Hetze innerhalb der Parteiführung kritisiert hatten. Über 13.000 Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft, darunter Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten, sahen sich gezwungen, Polen zu verlassen.

Daran schloss STEPHAN STACH (Leipzig) an, der den Blick auf das Schicksal jüdischer Wissenschaftler in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre richtete. In seinem Vortrag „Knowledge and Anti-semitism – The Jewish Historical Institute in 1968“ stellte er anhand der Ereignisse der Jahre 1967/68 rund um das Jüdische Historische Institut in Warschau die erinnerungspolitische Dimension dieses Zeitraums dar. So hätte die historiographische Arbeit des Instituts über das Schicksal der Juden während der deutschen Besatzung den Versuchen nationalistischer Kreise innerhalb der kommunistischen PVAP entgegengestanden, den Aufstand im Warschauer Ghetto als Akt des (national-) polnischen Widerstands zu vereinnahmen und die Opferrolle der Juden zugunsten der Polen zu minimieren. Nachdem die Mitarbeiter des Instituts als vermeintliche Zionisten unter anderem in der Presse heftig attackiert wurden und große Archivbestände eingezogen worden waren, verließ ein der überwiegende Teil der Mitarbeiter Polen.

Die Besonderheit der Key-Note-Lecture von JAN T. GROSS (Princeton) über „March 1968 in Poland – Reflection of a Participant“ lag in seinem biographischen und damit persönlichen Zugang zu den Märzereignissen. Gross war selbst Teilnehmer der Studentenproteste, die den Vorwand für die antisemitische Kampagne boten und verstand es, seine persönlichen Erinnerungen gekonnt im historischen Kontext zu verorten. Der Vortrag Gross bot einen einzigartigen Zugang zum Verständnis der Genese des studentischen Protests und seiner Wurzeln im speziellen Milieu unter den Kindern der Warschauer „roten Bourgeoisie“. Für die Teilnehmer des Protests, deren Vorbild die Entwicklungen in Prag hin zu einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz gewesen sei, so Gross, hätten die Märzereignisse nicht in direktem Zusammenhang mit der antisemitischen Kampagne gestanden. Als diese begannen, seien die meisten von ihnen bereits ohne Zugang zu Medien inhaftiert gewesen.

Einen anderen Zugang wählte KAROL SAUERLAND (Warschau/Kassel) in seinem Vortrag „1968 in Poland – An Intellectual History“, der 1968 als Intellektuellengeschichte Polens zeichnete und den Bruch zwischen der politischen Führung der Volksrepublik und ihren vormaligen intellektuellen Vordenkern aufzeigte. Während diese (zu den bekanntesten unter ihnen zählen heute wohl Leszek Kołakowski und Zygmunt Baumann) die gesellschaftliche Öffnung 1956 als Chance für eine ideologische und gesellschaftliche Neuausrichtung nach der Deformation durch den Stalinismus begriffen hätten, seien sie bald durch die Ignoranz und Geistesfeindlichkeit der Funktionärseliten und Machthaber in die Opposition zum System getrieben worden. Letztlich, so Sauerland, sei die Kampagne von 1968 nicht nur antisemitisch sondern auch hochgradig antiintellektuell gewesen. Sie habe den Abschluss der Entfremdung zwischen polnischer Intelligenzija und der Machtelite gebildet.

Im Zentrum des Vortrages von LUTZ FIEDLER (Leipzig) stand die Entwicklung einer polnischen Dissidentenströmung, die die Proteste von 1968 mitprägten. Der „Offene Brief an die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei“ von Kuron und Modzelewski wurde von Fiedler als Beleg für innerparteiliche Oppositions- und Demokratisierungsbestrebungen gewertet, die an Traditionen aus der Zwischenkriegszeit angeknüpft und zugleich die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen angestrebt hätten. Die Bestrebungen der Oppositionellen um Kuron und Modzelewski wären jenseits eines ethnisch-nationalen Selbstverständnisses zu verorten gewesen.

ANAT PLOCKER (Stanford) beschäftigte sich mit den Reaktionen der polnischen Juden auf die antisemitische Kampagne des Jahres 1968, die große Emigrationswelle einerseits und die Bestrebungen nach Verhandlungen mit der Regierung andererseits. Besonders die schwierige Rolle der TSKŻ, die sich selber als loyale polnische Kommunisten gesehen habe und gleichzeitig für die Existenz Israels eingetreten sei, arbeitete Plocker in ihrem Vortrag heraus.

In ihrem Vortrag „From Yiddishland to Atlantis“ betrachtete JOANNA NALEWAJKO-KULIKOV (Warschau) die Gruppe jiddisch-sprachiger Kommunisten in Polen, die nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion nach einem „polnischen Weg“ des Kommunismus unter gleichzeitiger Bewahrung der jiddischen Kultur und jüdischen Autonomie suchten.

Den letzten Beitrag lieferte ANDREA GENEST (Berlin), die sich in ihrem Vortrag „How Polish Dissidents discussed the anti-Semitic Campaign - Reflections on 1968“ mit Diskussionen über den Antisemitismus von 1968 in den Reihen der Dissidenten beschäftigte, die nach dieser Kampagne keinerlei Grundlage mehr für eine Zusammenarbeit mit der Partei gesehen hätten. Anders als in der polnischen Öffentlichkeit, sei in Dissidentenkreisen bereits in den 1970er-Jahren mit der Aufarbeitung der Ereignisse von 1968 begonnen worden, dies aber vor allem unter polnischen Exilanten und in Exilpublikationen.

Im Anschluss an den Workshops diskutierten DAN DINER, Jan T. Gross, IRENEUSZ KRZEMINSKI, Karol Sauerland und KATRIN STEFFEN über „Antisemitismus in Polen – eine aktuelle Debatte“, ausgehend von dem aktuellen Buch Jan T. Gross „Fear“ (poln. „Strach“). Die Diskussion war überschrieben mit der Frage nach der Bedeutung von 1968 für die polnische Geschichte und konkretisiert um die Fragen des Antisemitismus in Polen sowie des Umgangs mit den nationalen Geschichtsbildern in der Gegenwart. Die Verschränkung verschiedener zeitlicher, begrifflicher und thematischer Ebenen irritierte jedoch eher und ließ eine strukturierte Debatte nur ansatzweise aufkommen. Die Diskussion offenbarte die anfänglich angesprochenen unterschiedlichen Erinnerungskulturen West und Osteuropas. Dennoch können internationale Vergleiche und Arbeiten mit einer transnationalen Analyseebene so in Zukunft helfen, der Mythologisierung nationaler Narrative entgegenzuwirken.

Konferenzübersicht:

Introduction
Dan Diner

Session I: Jews and Communism in the Polish People’s Poland

Beata Kosmala (Berlin):
An Overview – Anti-Zionism and anti-Semitism in Postwar Poland (1944-1968)

August Grabski (Warsaw):
The ''Communist'' Party responses to anti-Semitism – The Polish October of 1956

Audrey Kichelewski (Paris):
"Jewish Communists” – The Socio-Cultural Society for Jews in Poland (TSKŻ) and the Polish United Workers Party, 1957-1967

Chair: Ireniusz Krzeminski (Lutz Fieldler?)

Session II part I: The Events of March 1968

Anita J. Prazmowska (London)
The anti-Zionist Campaign in Context – The Polish Year of 1968

Stephan Stach (Leipzig): The Jewish Historical Institute in 1968 – A Jewish Institution under Attack

Chair: Andrea Genest

Keynote-Lecture:
Jan T. Gross (Princeton)
The Events of March 1968 in context

Session II part II: The Events of March 1968

Karol Sauerland (Warsaw):
1968 in Poland – An Intellectual History
[in German]

Lutz Fiedler (Jerusalem/Leipzig):
Dissident Communists and anti-Semitic Oppression – Kuron and Modzelewskis Open Letter to the Party

*Chair: Andrea Genest

Session III: Reactions to the anti-Semitic Campaign

Anat Plocker (Stanford):
Emigration or Silence – Jewish Reactions to Polish Anti-Zionism

Joanna Nalewajko-Kulikov (Warsaw):
A Generation of Jewish Communists – From Yiddishland to Atlantis

Andrea Genest (Berlin):
How Polish Dissidents discussed the anti-Semitic Campaign - Reflections on 1968

*Chair: Katrin Steffen

Panel Discussion
Antisemitismus in Polen nach 1945 – Eine aktuelle Debatte

Moderation: Dan Diner (Leipzig/Jerusalem)
Jan T. Gross (Princeton)
Ireneusz Krzeminski (Warschau)
Karol Sauerland (Warschau)
Katrin Steffen (Halle)


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